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Warum Introvertierte bessere Texte schreiben und nicht auf alle Regeln achten sollten

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„Ich finde, du bist ganz schön introvertiert.“ Klingt das für dich wie eine ärgerliche Herabsetzung oder fühlst du dich damit korrekt beschrieben? Ich lerne immer besser, meine Introvertiertheit als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Und manchmal bin ich sogar stolz auf sie. Vor allem dann, wenn ich etwas Zeit für meine Gedanken habe – zum Beispiel beim Schreiben von Texten.

Manchmal auch nur einfach da sein: introvertierte Menschen brauchen auch mal Ruhe. (Foto von Berkeli Alashov auf Unsplash)

Wer oder was ist Introveriert?

Eingeführt wurden die Begriffe Introversion und Extraversion vom Psychologen C. G. Jung im Jahr 1921. Er stellte fest, dass die meisten Menschen entweder zu der einen oder der anderen Persönlichkeit neigen. Die extravertierten Menschen wenden sich mehr der Außenwelt zu, die introvertierten eher ihrer Innenwelt. Darin steckt keine Wertung, denn beide Neigungen sind richtig und für die Entwicklung der Menschheit benötigen wir „Macher“ genauso wie „Denker“, die nach der Wahrheit suchen und planen.

Und so haben die Extraversion und die Intraversion Einzug in das psychologische „Big-Five-Modell“ gefunden. Dieses Modell ist durch zahllose Studien belegt und beschreibt fünf Hauptdimensionen von Menschen:

  • Offenheit (für neue Erfahrungen)
  • Gewissenhaftigkeit
  • Extraversion
  • Verträglichkeit
  • Neurotizismus (Verletzbarkeit)

Die Persönlichkeitsmerkmale sind auf einer Skala mit unterschiedlicher Ausprägung zu finden. Nur in ihren Extremen sind diese Merkmale für Menschen gefährlich: Ein extrem verträglicher Mensch wird sich vermutlich selbst verlieren, ein extrem unverträglicher Mensch wird überall Ärger mit seiner Umwelt haben. Ein extrem gewissenhafter Mensch wird als „Erbsenzähler“ kaum voran kommen, einem extrem nachlässigen Menschen ist vermutlich alles egal. Doch das sind die Extreme. Der Großteil aller Menschen bewegt bei den „Big Five“ in einem mittleren Bereich – allerdings mit entsprechender Tendenz jeweils zum einen oder anderen. Und es ist natürlich von Vorteil, diese bei uns und anderen sehen und akzeptieren zu können.

Nun zurück zur Tendenz der Extra- oder Introversion: Ich halte das für ein entscheidendes Pärchen. Möglicherweise weil ich Jahrzehntelang gedacht habe, extrovertiert sein zu müssen – aber introvertiert bin. Hier einige gute Eigenschaften von Introvertierten die aber gesellschaftlich nicht akzeptiert sind:

  • Es quält mich, Vorträge zu halten. Und ich meine damit nicht Lampenfieber sondern wirkliche Qual – die auch zu einer Denkblockade führen kann. Das lässt sich selbst durch viel Übung nicht wegtrainieren.
  • Mein Bedarf an Kommunikation mit anderen Menschen ist geringer als der vieler Kolleg:innen. Nach einem Seminar brauche ich viel Zeit alleine. Das verstehen viele Menschen in meiner Umgebung nicht.
  • Wenn ich vorschlage, über ein wichtiges Thema erst einmal zu schlafen, wird das häufig mit Verachtung quittiert.
  • Ich genieße es, konzentriert und alleine an einem Arbeitsstück zu arbeiten und bin nicht überzeugt, dass Teams immer die besseren Ergebnisse liefern.

„Wer bremst, verliert!“ „Handeln statt denken“ – vor allem in der Marketing-Branche sind das die Leitsätze. Diese Sätze wurden von Extrovertierten für Extrovertierte gemacht und mögen für sie funktionieren. Für mich und viele andere funktionieren sie nicht.

Und ich bin nicht alleine: Wir können davon ausgehen, dass etwa 35 bis 50 Prozent der Menschen introvertiert sind. Und noch eine spannende Zahl: Zu mehr als die Hälfte ist diese Persönlichkeits-Tendenz ein Ergebnis der ererbten Gene. Wir kommen also schon introvertiert auf die Welt. Den Rest bestimmt dann die Erziehung. Doch leider werden viele zurückhaltende, ruhige Kinder auf „extrovertiert“ umerzogen. Das ist möglich, aber es kostet sie mindestens so viel Energie wie Linkshänder benötigen, um mit der rechten Hand ansehnlich zu schreiben.

Warum Marketing und Vertrieb von Extrovertierten bestimmt wird

Susan Cain erzählt in ihrem Buch „Still: Die Kraft der Introvertierten“ von der amerikanischen Geschichte der Extraversion. Wie die Extrovertierten die Macht übernommen haben – nur, weil sie lauter sind. Schließlich gibt es keine Korrelation zwischen Redegewandtheit und guten Entscheidungen. Cain führt zahlreiche Studien an, aber wir können das tagtäglich selbst sehen: Wenn die Führung eines Teams von dem übernommen wird, der mehr und schneller redet – obwohl die stilleren Team-Mitglieder besser wissen, was zu tun wäre. Das ist nicht immer der Fall – aber häufig.

Fun Fact: Menschen, die schneller reden, werden als intelligenter angesehen. Dabei gibt es auch da keine Korrelation. Menschen, die schneller reden sind weder schlauer noch weniger schlauer als Menschen, die langsamer reden. Es scheint, dass beide Eigenschaften nichts miteinander zu tun haben.

Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum heute viel mehr Extrovertierte an den Hebeln der Macht sitzen – selbst wenn Charles Darwin, Albert Einstein und Bill Gates introvertierte Menschen sind oder waren.

Gerade im Vertrieb und im Marketing braucht es – scheinbar – Typen die schnell handeln und gerne reden. Und deshalb haben sie die Oberhand in diesen Branchen.

Das Problem ist offensichtlich: Wenn der eine Persönlichkeits-Typus alleine definiert, wie das Marketing für alle Menschen sein soll. Denn 30 bis 50 Prozent aller Menschen sind ja anders. Und so kommt es zu Auswüchsen wie diese Auswahl von „Goldenen Marketing-Regeln“, auf die ich durch schnelles Googeln gestoßen bin:

  • „Snackable Content ist das A und O“ – Dabei gibt es viele Menschen, die sich auch für die Hintergründe interessieren.
  • „Dein Content muss aktuell sein“ – Doch viele Menschen möchten lieber ein gesamtes Bild statt eine News-Zusammenstellung.
  • Hochwertiger Content ist sharable“ – Obwohl es nur in einigen Sparten überhaupt nennenswerte Umsätze aus den Sozialen Netzwerken gibt.
  • Keep it short and simple“ – siehe oben
  • Fakten verwirren nur“ – WHAT? Schluss mit dem Blödsinn…

Vielleicht sind diese Regeln AUCH richtig. Aber nur für einen Teil des Marketings. Und sie gelten nur, wenn ich mit Fernsehwerbung eine möglichst breite Masse zum Kauf von 08/15-Produkten bewegen will. Sobald die Nische kleiner und die Produkte komplexer werden, braucht es andere Regeln. Komplexere Regeln, die mehr Denkleistung benötigen. Und da kommen die Introvertierten ins Spiel…

Warum Introvertierte Menschen bessere Texte schreiben

  • Weil wir lieber nachdenken, als schnell zu antworten. Und diese Möglichkeit gibt uns geschriebener Text.
  • Weil gute Texte immer geplant werden müssen. Während eine gute Rede frei entsteht, kann (und muss) ein guter Text geplant, geschrieben und überarbeitet werden.
  • Weil wir konzentriert und alleine arbeiten können. Wir lieben es, eine längere Zeit in Ruhe an einem Textstück zu arbeiten.
  • Weil wir auch ein bisschen Perfektionisten sind. Und Texte werden genauer geprüft als das vergängliche gesprochene Wort.
  • Weil wir – hoffentlich – keine Komplexität verleugnen.

Bist du introvertiert oder extrovertiert?

Du bist in diesem Beitrag über Introversion – der auf einem Blog für Texten und Achtsamkeit steht – so weit gekommen? Ich finde, dafür musst du schon ganz schön introvertiert sein 🙂

Im Ernst: In den vergangenen Jahrzehnten hatte ich immer das Gefühl, dass Schreiben etwas ganz Besonderes ist. Und ich habe selten wirklich gute Autor:innen getroffen, auf die die Hauptmerkmale von extravertierten Menschen zutreffen: gesprächig, bestimmt, aktiv, energisch, dominant, enthusiastisch und abenteuerlustig. Nicht, dass grandiose Autor:innen nicht enthusiastisch und abenteuerlustig sein können. Aber gesprächig und dominant?

Einige der Eigenschaften haben wir Introvertierten uns ja antrainiert, weil wir dachten, sie sind wichtig für den Erfolg. Ich gebe mittlerweile sogar sehr gerne Seminare – obwohl ich bei diesen tagelang reden muss. Das strengt mich sehr an. Aber weil ich es nun kann, mache ich es gerne. Und ich kann in vielen Situationen sehr dominant sein. Aber ich genieße es viel mehr, in meinem Arbeitszimmer meine Gedanken zu entwickeln und in Worte zu fassen.

Jetzt du: Wie geht es dir damit?

Es gibt Tests, die dir sagen, welcher Persönlichkeits-Typ du bist. Google bitte selbst nach diesen – ich will keinen wirklich empfehlen. Beschäftige dich mit dem Ergebnis und wundere dich vielleicht. Und, hey, es ist nicht mal schlimm, wenn du extrovertiert bist und gerne schreibst 🙂 Menschen sind nun mal verwirrend vielfältig. Das ist ja das Großartige an unserer Spezies.

Mehr Mut!

Ich will dir mit diesem Beitrag vor allem eines machen: Mut! Es ist keine Schwäche, wenn du bei einem Elevator-Pitch eine Denksperre bekommst. Und es ist auch nicht unsozial, wenn du nach einem Arbeitstag mit vielen Meetings erst einmal deine Ruhe willst. Das sind keine Schwächen, sondern deine Persönlichkeit.

Und auf Texte bezogen: Wenn auf einer Konferenz, auf Facebook oder in einem Webinar wieder jemand lautstark behauptet, die Weisheit in der Vereinfachung entdeckt zu haben, kannst du nun zufrieden lächeln. Denn es kann uns egal sein, was Extrovertierte davon denken, wie etwas getan werden muss.

Unsere Supermacht ist es, ERST darüber nachzudenken, ob in diesem, unseren Fall diese Wahrheit auch gilt.

Zusammenfassung in 5 Punkten

  • Introvertierte sind weder besser noch schlechter als Extroverierte. Im Gegenteil: Vermutlich sind wir alle ein bisschen von beidem – mit Tendenz zu einem der beiden Pole.
  • Introvertierte lernen leider häufig die Eigenschaften von Extrovertierten, weil die Gesellschaft denkt, das wäre für den Erfolg notwendig. Dabei verleugnen sie aber ihre Persönlichkeit.
  • Textinhalte sollten vor der Veröffentlichung durchdacht sein. Deshalb liegt introvertierten Menschen das Schreiben mehr als extrovertierten Menschen
  • Marketing-Regeln werden von Extrovertierten gemacht – auch die Text-Regeln. Deshalb sollten sie mit Bedacht eingesetzt werden.
  • Also folge nicht den Regeln sondern nimm dir die Zeit, sie erst zu prüfen

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