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Automatisches Schreiben / Freewriting: Anleitung und Erfahrungen

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Wenn es EINE Übung gibt, die ich allen (also nicht nur Autor:innen) empfehle, ist es „Automatisches Schreiben“ oder „Freewriting“. Beide Begriffe werden verwendet und meinen eine fast traditionelle aber wirkungsvolle Übung, mit der du mindestens deine Kreativität trainierst. Und noch viel mehr …

Automatisch Schreiben / Freewriting Foto: Eric
Nein, das hat mit Freewriting / Automatischen Schreiben nichts zu tun (Foto: Eric)

Übrigens: Falls du mehr Auswahl an kreativien Übungen suchst, schau mal bei meinen 30 Übungen für Kreatives Schreiben rein. Und vielleicht ist auch das Brain Dumping für dich eine gute Lösung. Da geht es mehr um das Organisieren von Gedanken – mit einer verwandten Technik.

Zurück zum Thema: Wenn du googelst, findest du das auch als „Wildes Schreiben“, „Freies Schreiben“ oder „Assoziatives Schreiben“. Egal: Automatisches Schreiben / Freewriting ist eine mehr als 100 Jahre alte Technik, mit der Psychologen an das Unbewusste ihrer Patienten und Künstler an ihre Kreativität gelangen. Und beides kann für dich nützlich sein.

Hintergrund: die Psychologie hinter Freewriting

Schauen wir uns die Quelle des Automatischen Schreibens an. Hier begegnen wir dem Psychotherapeut Pierre Janet, der schon 1889 Versuche mit Patienten unternahm, die im Halbschlaf, in Trance oder unter Hypnose schreiben sollten. Kamen sie in einen Schreibfluss, offenbarten sie mit dem Stift so einiges, was bislang im Unbewussten verschüttet war. Damit konnte der Therapeut dann arbeiten.

Die Leistung von Pierre Janet wird umso erstaunlicher, da der Übervater aller Psychologie, Sigmund Freud, das Unbewusste zur damaligen Jahrhundertwende überhaupt erst bekannt machte. 

Wie auch immer: Pierre Janes wurde mit dank dieser Übung nicht nur zum Begründer des Écriture automatique, sondern auch der Gründer eines „neuen Systems der dynamischen Psychiatrie“ und sein Werk zu einer der Hauptquellen für Freud, Alfred Adler und C. G. Jung.

Auch interessant und beachtet war im Jahr 1903 der Fall von Daniel Paul Schreber, der Sohn des Erfinders der Schrebergärten (kein Witz!). In diesem Jahr veröffentlichte Schreber nämlich sein Buch „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ – geschrieben hat er es mit der Technik des Automatischen Schreiben. Das Buch enthält Schrebers Sicht auf seine eigene Psychose, gräbt tief in seinem Unbewussten und gilt als umfassende Fallstudie für die nachfolgenden Psychologie-Generationen. Seine Erkrankung hat er wohl seinem Vater, einem Hauptvertreter der „Schwarzen Pädagogik“, zu verdanken, der seine Kinder mittels orthopädischer Geräte zu „gesunder Haltung“ trainierte. Ich weiß allerdings nicht, ob das vor oder nach der Erfindung von Kleingartenanlagen war und wie das miteinander zusammenhängt.

Übrigens ist hier der Unterschied zwischen Freewriting und Automatischem Schreiben erkennbar:

  • Automatisches Schreiben, damals als Psychographisches Schreiben bekannt, versucht, ohne bewusste Kontrolle die Bewegungen der Hand oder des Schreibgeräts zu steuern. Dies wird oft im Kontext von spiritistischen Sitzungen oder in der künstlerischen Welt verwendet, um kreative Inspiration zu fördern.
  • Beim Freewriting ist der „Kontrollverlust“ nicht bei den Bewegungen der Hand, sondern beim Loslassen der bewussten Kontrolle über den Inhalt. Das ist fast identisch, aber für detailverliebte Menschen vielleicht wichtig.

Geschichtliches Vol. 2: die Literatur

Weiter ging es mit dem Automatischen Schreiben dann im Paris. Einige Surrealisten um Andé Breton stürzte sich in den 1920er-Jahren auf diese Methode und füllten ganze Bücher mit dem Ergebnis des Écriture automatique. Ich glaube nicht, dass diese Werke heute noch zur Unterhaltung dienen. Aber die Anweisungen Bretons sind interessant, die er 1924 in sein „Surrealistisches Manifest“ aufnahm:

Das klingt sehr ausgefeilt und ist überaus kompliziert. Meine Versuche, es nach diesen Anweisungen zu versuchen, sind jedenfalls gescheitert. Es kam keine Literatur dabei heraus 🙂

Wie auch immer: Irgendwann ist das Automatische Schreiben aus der Psychologie und aus der Literatur verschwunden. Erst in den Jahren vor der Jahrtausendwende gab es gelegentlich Hinweise darauf, dass große Autor:innen ihre Schreibhemmung mit dieser Methode überwunden haben.

Versprochen: Du musst nicht nervenkrank sein oder unter einer Schreibhemmung leiden, um aus dem Freewriting und dem Automatischen Schreiben deinen Nutzen ziehen zu können. Im Gegenteil: Ein gesunder Mensch kann beim Blick in sein Unbewusstes sehr viel Kreativität und vermutlich noch mehr entdecken.

Anleitung zum Freewritings / Automatischen Schreiben

Das Schöne daran ist – wie bei allen wirklich großen Übungen – die Einfachheit. Bevor du startest, eine Bitte: Nimm dir fest vor, die Technik für einige Tage regelmäßig zu üben. Nur, wenn du der Routine eine Chance gibst, wirst du davon profitieren können. Also investiere in den nächsten ein bis zwei Wochen täglich mindestens zehn Minuten. Und urteile dann.

So geht das Automatische Schreiben / Freewriting:

  1. Leg ein Stück Papier, ein hübsches Schulheft oder ein Notizbuch auf den Tisch und nimm einen Stift zur Hand. Ja: kein Bildschirm, keine Tastatur!
  2. Stelle am Anfang einen Wecker auf fünf Minuten. Erhöhe nach einigen Tagen auf 10 Minuten. Später kannst du gerne auch länger schreiben. Momentan bleibe in diesem Zeitrahmen.
  3. Und nun: Schreib! Möglichst schnell. Versuche, in der kurzen Zeit so viele Wörter aufs Papier zu bringen wie möglich. Schreib, was dir durch den Kopf geht. Wenn du dich fragst, was du schreiben sollst, schreibe, dass du dich fragst, was du schreiben sollst. Denke nicht über Komma-Regeln oder unfertige Sätze nach. Schreib! Los!
  4. Wenn die Zeit vorbei ist, bist du fertig. Lass den Stift fallen und höre auf zu schreiben. Mach einen Spaziergang, etwas zu Essen oder rauche eine Zigarette. Egal. Hauptsache, du hörst auf zu schreiben. Es ist außerdem hilfreich, , nicht sofort wieder in den „produktiven“ Tag einzusteigen. Aber, wenn es nicht anders geht, dann kannst du auch das tun.

Das ist schon alles. Mehr musst du nicht tun. Einmal am Tag hast du einen Termin mit deinem Stift, dem Papier und deinem Wecker. Und danach geht dein bisheriges Leben wieder weiter.

Natürlich sind die Text-Ergebnisse aus literarischer Sicht zunächst zweifelhafter Natur. Selbst, wenn du es selbst noch lesen kannst – für die Öffentlichkeit sind die Ergebnisse solcher Schreib-Meditationen nicht geeignet. Es gibt keinen Einstieg, keinen roten Faden, nur viele Wörter und eine Menge Fehler. Egal! Es geht um den Weg und nicht um das Ziel. Du trainierst damit deinen Schreibmuskel und bietest deinem kreativen Unbewussten ein Ventil an.

Schreiben, schreiben, schreiben –  dann kommt die Kreativität von allein

Wichtig bei dieser Übung sind Regelmäßigkeit, Umgebung und eine klare Zeiteinteilung.

  • Eine ungestörte und vielleicht immer gleiche Umgebung hilft dir, dich auf das Schreibmuskeltraining zu konzentrieren. Es wird dir nach kurzer Zeit immer leichter fallen, dich auf das Automatische Schreiben einzulassen.
  • Die Regelmäßigkeit ist wie bei jedem Training ein Erfolgsrezept. Denn ohne Routine kann sich dein Geist nicht darauf einstellen.
  • Und warum die Zeiteinteilung auf genau 5 oder 10 Minuten? Das ist nicht wichtig. Ich möchte dir nur zeigen, dass es nicht viel Zeit benötigt. Ich selbst habe auch schon eine Stunde lang automatisch geschrieben – um möglichst viele Dinge los zu werden oder endlich ein knackiges Problem zu lösen

Warum das Automatische Schreiben / Freewriting funktioniert

Der Hintergrund zur Methode: Durch diese assoziative Übung fällt es dem Gehirn offenbar leicht, die üblichen Gedankensperren (man kann diese als „Wächter“ verbildlichen) zu überwinden. Du machst in dieser Übung mehr oder weniger alles, was man in umfangreicheren Achtsamkeits-Trainings lernt:

  • Du bist voll und ganz „gegenwärtig“, weil du keine Zeit hast, nebenher über das Abendessen oder etwas Anderes nachzudenken.
  • Du fokussierst dein Bewusstsein auf eine einzige Tätigkeit – und
  • du bewertest nicht.

Das heißt, du gehst durch das Automatische Schreiben in so etwas wie „Meditation“ – doch du konzentrierst dich nicht auf deinen Atem oder eine Kerze, sondern lässt die Wörter fließen. Der „Wächter“, der ansonsten dein Unbewusstes schützt, entspannt sich und lässt mehr raus, als in einer nicht-meditativen Stimmung. Das wiederum führt dazu, dass du noch tiefer graben kannst und so weiter. Vielleicht beginnst du schließlich sogar zu beobachten, wie ein unbekannter kreativer Teil in dir die Hand steuert, während dein „normales“ Bewusstsein zuschaut. Dann gibt es gar keinen Unterschied mehr zwischen Automatischen Schreiben und Freewriting.

Freewriting / Automatisches Schreiben anwenden

Nach ein wenig Übung kannst du auch lernen, die Richtung deiner Gedanken zu steuern. Wenn der Schreibkanal erst einmal geputzt ist, kannst du dir vor dem täglichen Schreiben ein Thema vornehmen. „Wohin möchte ich im Winter-Urlaub?“ „Was fällt mir zum Thema Unternehmensgründung ein?“ „Was spricht für einen Umzug nach Berlin?“ Es gibt viele Fragen, die deine Kreativität fordern.

Es kann allerdings sein, dass sich dein Schreibmuskel einem solchen Thema verweigert und deine Gedanken in eine andere Richtung abschweifen. Wenn das passiert, nimm das ernst. Vielleicht war die Frage gar nicht so einfach zu beantworten und du solltest zunächst ein anderes Thema klären.

Zwei strukturierte Weiterentwicklungen von Freewriting / Automatischem Schreiben

Biografisches Schreiben

Zusätzlich zum normalen biografischen Schreiben, ist es möglich, dies auch manuell zu erledigen: Lege ein Thema oder einen Menschen aus deiner Lebensgeschichte in den Fokus und beginne, zu schreiben. Vielleicht mit dem Satz „Als ich in der achten Klasse war …“.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass du abschweifen wirst – das ist sogar gut so. Denn du hast deine Vergangenheit mit aktuellen Ereignissen und Emotionen verknüpft und bei einer solchen Nabelschau, tauchen diese Verbindungen auf. Darum geht es ja. Wenn du wieder zurück zum Fokus möchtest, schreibst du erneut den Satz „Als ich in der achten Klasse war …“ und machst weiter. So holst du dich immer wieder zu deinem Thema zurück.

Das produziert keine Autobiografie – aber integriert deine Vergangenheit in dein aktuelles Leben.

Die Morgenseiten von Julia Cameron

In Ihrem Buch „Der Weg des Künstlers: Ein spiritueller Pfad zur Aktivierung unserer Kreativität“ hat Julia Cameron eine starke Methode vorgestellt. Ich bin kein besonders großer Fan ihres Buches – aber diese Übung ist ein Knaller:

Du legst dir Stift und Papier neben das Bett, stellst den Wecker zwanzig Minuten früher und schreibst VOR dem Aufstehen von Hand drei Din-A4 Seiten nach den ansonsten ähnlichen Regeln des Automatischen Schreibens.

Da wir direkt nach dem Aufwachen noch in einer Welt zwischen Traum und Realität wandeln, schlummert der oben „Wächter“ genannte Mechanismus noch und wir notieren verblüffende Wahrheiten über unsere Emotionen und Wünsche. Es hilft übrigens, wenn du das jeden Morgen und ohne innere Diskussion tust. Ansonsten reißt dein Streak ziemlich schnell ab.

Tools und Hilfen

Hier endet der Artikel – selbst für die nerdigsten Tool-Liebhaber. Denn zum Automatischen Schreiben / Freewriting brauchen wir nur einen Stift und ein Heft oder ein Stück Papier. Technische Hilfen sind sinnlos, ja sogar kontraproduktiv.

Warum üben wir das eigentlich mit einem Stift auf so einem unmodernen Stück Papier? Erstens, weil der Weg zwischen dem Gehirn und dem Stift viel kürzer und direkter ist, als bis zu einem Bildschirm. Zweitens, weil das Schreiben mit Stift die Übung aus dem alltäglichen Getippe, aus dem Schreiben für den Job oder für den Blog heraus katapultiert. Und schließlich, drittens, weil dir die Handschreiberei dir die Möglichkeit gibt, in einem schönen Schreibwarenladen nach einem teuren Kugelschreiber und einem tollen Moleskine Heftchen zu suchen, um darin diese wichtigste aller Schreibübungen zu zelebrieren. Na gut, das können auch schöne Tools sein.

Probiert diese Übung einige Tage lang, es wird funktionieren!

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4 Gedanken zu „Automatisches Schreiben / Freewriting: Anleitung und Erfahrungen“

  1. Toller Artikel und ein super Tipp! Danke dafür. Ich werde das heute Abend gleich mal testen. Wenn man das in einem extra Schreibheft unterbringt, dann kann man sogar kontrollieren, wie sich seine Fähigkeiten mit der Zeit verbessern. Da bin ich sehr auf die Ergebnisse gespannt.

  2. Interessanter Artikel! Ich habe das gerade ausprobiert und meine ersten 5 Minuten intensiv geschrieben. Die Zeit verging wie im Flug und ich hätte gerne noch mehr geschrieben. Hab ca. eine halbe bis dreiviertel A4-Seite geschafft. Ich bin gespannt, ob es in den kommenden Tagen mehr wird. Und vor allem, ob ich mit mehr Kreativität schreiben werde.

  3. Es ist erstaunlich. Meine Kopf denkt, aber meine Hand schreibt etwas anderes. Es ist, als weigere sich meine Hand die gedachten Wörter so aufzuschreiben. Die Schrift sieht nicht schön aus. Und ich habe bemerkt, dass ich oft das gleiche schreibe. Es ist äusserst merkwürdig. Als schreibe ich etwas auf, was Jemand anderes erlebt hat. Meine zweite Woche beginnt und ich mache weiter….

    1. Steffi, fein, dass du diese Übung machst. Bedenke aber, dass dies natürlich keine Magie oder so ist. Wenn du ein ungutes Gefühl hast, dann ist es vielleicht eine gute Idee, mal eine Pause einzulegen. Und vielleicht auch mit jemandem über diese Erlebnisse zu sprechen. Nichts, also auch das Automatische Schreiben, kann das Gespräch mit einem klugen Menschen ersetzen. Ok?

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